In sein Haushaltbuch, das er ebenso als stenogrammartiges Tagebuch führte, trug Schumann am 23. Januar 1841 ein: „Frühlingssymphonie angefangen“. Diese Sinfonie, bei welcher der Komponist weiterhin Assoziationen mit der Frühlingszeit hatte, auch wenn er später ihren Titel wie auch die Überschriften der einzelnen Sätze strich, wurde in atemlosem Tempo in der unglaublich kurzen Zeit von vier Tagen skizziert.
Zum Beispiel sollte eine beträchtliche Passage – die ausgedehnte Coda des ersten Satzes – offenbar der Ausarbeitung zu einem späteren Zeitpunkt überlassen werden und ist in der Skizze nur durch äusserst unbestimmte Hinweise dargestellt.
Die autographe Partitur legt Zeugnis vom Prozess der Überarbeitung ab, die auf jeder Seite zahlreiche Änderungen bezüglich Einzelheiten der Instrumentation, Figuration, Notation usw. mit sich brachte.
Glücklicherweise nahm sich der Komponist oft Zeit, den Dirigenten, denen er Partituren übersandt hatte, brieflich seine Wünsche über die Aufführung und Interpretation des Werkes zu übermitteln.
Obwohl die Stimmen von op. 38 am 10. November 1841 veröffentlicht wurden, erschien die Partitur erst im Januar 1853. Die vielen Aufführungen der Sinfonie während der elf dazwischenliegenden Jahren wurden also entweder aus der Stimme der I.Violine dirigiert, oder aus handschriftlichen Partituren, die Schumann an die Dirigenten verlieh. Die Abschrift, die als Stichvorlage der Partitur-Ausgabe von 1853 dienen sollte, entstand als eine dieser Dirigierpartituren. Sie wurde von einem Leipziger Kopisten Schumanns geschrieben und befindet sich heute in der Sammlung der Library-of-Congress in Washington. Die Handschrift enthält einige Verbesserungen und Änderungen von Schumanns Hand, die aus den vierziger Jahren stammen, sowie eine grössere Anzahl geringfügiger Korrekturen, die Schumann im Frühling 1852 vornahm, als er das Manuskript für den Druck durchsah.
Schumann schreibt, dass der Kopist für die Verzögerung der Konzertreise nach Bremen und Hamburg verantwortlich sei. (Die Sinfonie wurde in beiden Städten gespielt.) Könnte der Komponist auf eine neue Partitur gewartet haben? Eine ungewöhnlich grosse Anzahl von Kopierfehlern in der Library-of-Congress-Abschrift verrät vielleicht die Eile des Kopisten. Die Library-of- Congress-Abschrift steht in engem Zusammenhang mit Schumanns autographer Partitur. Sie wurde von demselben Kopisten hergestellt, dessen Handschrift in der Exposition des Schlusssatzes in Schumanns Autograph erscheint. Ausserdem kopierte dieser Schreiber die Library-of-Congress-Abschrift von einer nicht mehr vorhandenen Vorlage, die er selbst – sehr wahrscheinlich in Zusammenarbeit mit Schumann – vom Autograph hergestellt hatte.
Die Stichvorlage für die Partitur von op.38 ist von Schumanns Autograph zwei Schritte entfernt; das Autograph entspricht einer früheren Fassung des Notentextes der Sinfonie, wie sie bei der Premiere am 31. März 1841 aufgeführt wurde. Eine weitere, verschollene Partitur nach dem Autograph entstand, nachdem Schumann den Notentext in genau die wohlbekannte Form gebracht hatte. Dieses verlorengegangene Manuskript wurde mit ziemlicher Sicherheit bei der Probe am 13. August 1841 im Gewandhaus benutzt und vom selben Kopisten wie dem von der Stichvorlage angefertigt. Berücksichtigt man den allmählichen Verlust von Feinheiten der Notation aufgrund zweier aufeinander folgender Abschriften (das verschollene Manuskript und die Stichvorlage) und die Tatsache, dass der Stich der Stimmen-Ausgabe von 1841 nach handschriftlich kopierten Stimmen erfolgte und so mindestens zwei, wenn nicht drei Schritte von Schumanns Niederschrift entfernt war, wird es nicht weiter überraschen, dass bei Erscheinen der Erstausgabe der Partitur im Jahre 1853 ein bestimmter Grad von Standardisierung in die Partitur Eingang gefunden hat. Freilich suchte ein gewissenhafter Verlagslektor grundsätzlich einen persönlichen Notationsstil zu vereinheitlichen, gerade dann, wenn er es mit einer unstimmigen Stichvorlage und – so war es bei Breitkopf & Härtel die Regel – mit von Lehrlingen gestochenen Orchesterstimmen zu tun hatte und von vornherein Nuancen der Notation den Erfordernissen des Layouts zu opfern hatte. Auch sollte man sich vor Augen halten, dass Schumann selbst bei starkem Engagement für andere Vorhaben einen Abstand von elf Jahren zur Komposition der Sinfonie hatte und von der ästhetischen Position, die er 1841 eingenommen hatte, weit entfernt war.
Auch wenn der Versuch, die Subtilitäten der Notation von Schumanns Autograph wieder herzustellen, verlockend ist, so schliessen die zahlreichen Abweichungen des Notentextes von Früh- und endgültiger Fassung einen solchen Ansatz aus. Der Spielraum für Irrtümer und Ungewissheiten wäre zu gross.
Wie erwähnt, enthält die Library-of-Congress-Abschrift eine Menge von Abschreibefehlern. Einige Irrtümer wurden von Schumann mit Bleistift in den frühen vierziger Jahren korrigiert. Andere wurden von ihm mit Tinte verbessert, als er im April 1852 die Abschrift für den Druck durchsah. Manche Fehler aber wurden von Schumann im Jahre 1852 übersehen und später entweder von ihm oder von einem Korrektor des Verlags Breitkopf & Härtel korrigiert. Alle Verbesserungen in der Abschrift, einschliesslich derjenigen aus den vierziger Jahren, wurden natürlich erst nach Veröffentlichung der Stimmen vorgenommen. Viele spiegeln den Text der Stimmen wider. Man könnte vermuten, dass die verlorengegangene Vorlage der Library-of- Congress-Abschrift, da letztere so fehlerhaft ist, ebenfalls viele Irrtümer enthielt. Eine solche Mutmassung aber ginge in die Irre. Wir verfügen zum Glück über eine weitere Abschrift der Sinfonie, und zwar über eine sorgfältigere. Diese Abschrift in der Sammlung der British Library stammt von der Hand eines anderen Kopisten. Sie enthält ebenfalls den vor 1853 vorhanden gewesenen Text der Sinfonie, aber im Gegensatz zur Library-of-Congress-Abschrift ist diejenige der British Library nie revidiert worden.
Die beiden Abschriften haben miteinander gewisse Notationsweisen gemein: z.B. finden sich die häufigen Wechsel vom Bassschlüssel zum Tenorschlüssel im Fagott in beiden Handschriften an denselben Stellen, und zwar andernorts als in den gedruckten Stimmen.
Bei der Korrektur der Partitur-Abzüge im Herbst 1852 nahm Schumann eine weitere Änderung vor: er revidierte die Metronom-Angaben, wobei mit Ausnahme des zweiten Satzes alle Tempi verlangsamt wurden.
In den letzten Jahren haben Wissenschaftler erkannt, dass die deutlich langsameren Tempi in Schumanns Spätwerk (und ebenfalls in den revidierten Metronom-Ausgaben mancher seiner in den 1850er Jahren neu herausgegebenen frühen Werke) nicht einem möglicherweise fehlerhaften Metronom zugeschrieben werden müssen, sondern der veränderten Zeitvorstellung des Komponisten.
Schumann vollendete die Revision am 28. April 1852, wie er auf der letzten Seite der Handschrift notierte. Für diese Revision benutzte er eine Tinte, die heute dünn und umbrafarben erscheint. Auf Grund der charakteristischen Tintenfarbe und der typischen eckigen, abgesetzten Züge der späten Schrift Schumanns lassen sich die Eintragungen von 1852 von den Verbesserungen der frühen vierziger Jahren leicht unterscheiden.
Nachdem Schumann dem Verleger die Stichvorlage geliefert hatte, die er unzutreffend als „ein ganz correctes Exemplar der Partitur meiner 1 sten Symphonie“ bezeichnete, widmete er der Sinfonie wenig mehr an Zeit und las offenbar bei nur einem Durchgang Korrektur. Diese Beschreibung der Handschrift als ganz correct ist jedoch kaum zutreffend. Schumann korrigierte nur wenige Schreibfehler, und es finden sich viele Inkonsequenzen in bezug auf Phrasierung, Artikulation, Vortragsbezeichnungen usw. An einer Stelle radierte der Kopist einen Fehler aus und versäumte dann, den richtigen Text einzutragen. Sogar Schumann selbst übersah diese Unterlassung. Ein anderer jedoch verbrachte viel Zeit damit, die Partitur zu vereinheitlichen und ihre Lesarten weitestgehend in Übereinstimmung mit denen der mehr als elf Jahre zuvor gedruckten Stimmen zu bringen. Auf diese Weise brachte es der Verlagslektor trotz der fehlerhaften Stichvorlage zustande, durch Vergleich mit Schumanns neuen Revisionen von 1852 einen Notentext für die Druckausgabe der Partitur zu erstellen, der, wenn auch nicht unfehlbar, so doch wirklich gut war.
In nachdenklicher Stimmung notierte der Komponist am 21. Februar 1841 in das Ehetagebuch, ein Tagebuch, das Robert und Clara Schumann gemeinsam führten:
„Die Sinfonie hat mir viele glückliche Stunden bereitet; sie ist ziemlich fertig; ganz wird es so ein Werk erst, wenn man es gehört…
Textcollage: Andreas Gerber
Text aus: Taschenpartitur Robert Schumann Sinfonie Nr.1, B-Dur, Vorwort.
Herausgegeben von Linda Correll Roesner. Edition Eulenburg No. 417. Verlag Ernst Eulenburg & Co GmbH, 1993
Text aus: Linda Corell Roesner, „Einige quellen- und textkritische Bemerkungen zur B-Dur-Sinfonie op.38“
In: Schumanns Werke – Text und Interpretation, 16 Studien herausgegeben von der Robert-Schumann-Gesellschaft, Düsseldorf durch Akio Mayeda und Klaus Wolfgang Niemöller. Verlag Schott`s Söhne, Mainz 1987